Wo Franziskus recht hat

Die Enzyklika „Laudato si“, die Papst Franziskus in der vergangenen Woche veröffentlichte, wird von vielen als Meilenstein und als historisches Ereignis gehen, so zum Beispiel vom Potsdamer Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber und auch von vielen Politikern. Mit großer Klarheit erkennt Franziskus darin die Erkenntnisse der Klimaforschung an, weist auf zahlreiche andere Umweltprobleme hin und ruft die Weltgemeinschaft eindringlich zum Handeln auf. Dabei ist für ihn eines der Kernprobleme der übermäßige Konsum in den Industriegesellschaften und die rücksichtslose Ausbeutung der Natur durch internationale Unternehmen.

Da der Papst Umweltzerstörung und soziale Ungerechtigkeit mit einer heftigen Kritik des gegenwärtig vorherrschenden Wirtschaftssystems verbindet, ist wenig überraschend, dass er damit selbst in die Kritik gerät. Während sich Wirtschaftsvertreter auffallend zurückhalten, hat die F.A.Z. gleich in zwei Meinungsbeiträgen die Enzyklika attackiert: Im Betrag „Ökologisches Manifest“ von Daniel Deckers am 19.6. und im Wirtschaftskommentar „Wo der Papst irrt“ von Jan Grossarth am 20.6. Offenbar sehen sich diese Journalisten herausgefordert, das wirtschaftsliberale Gedankengut zu verteidigen. Leider tun sie dies in einer reflexhaften und unsachlichen Weise, die dem, was der Papst sagt, nicht gerecht wird.

Nachdem Deckers ein paar lobende Worte für die Enzyklika findet, schießt er seine erste Breitseite ab:

Freilich sind die Be- und Zuschreibungen der Krisenphänomene über weite Strecken in einem ebenso schlichten wie schrillen Ton gehalten, prophetischer Weckruf entpuppt sich als abgestandene Polemik. Immer wieder verbinden sich klassisch-katholische Vorbehalte gegen eine ordo-liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit den üblichen Verurteilungen aller möglichen Ismen von Anthropozentrismus über Konsumismus bis Hedonismus zu einem moralinsauren Gebräu. Versatzstücke von Verelendungs- und Weltverschwörungstheorien machen dieses ökologische Manifest mitunter ungenießbar.

Zunächst lese ich den Text nicht als Polemik, sondern als eine Bestandsaufnahme auf der Grundlage vieler wissenschaftlicher Erkenntnisse und eine nachfolgende klare Analyse, die im Sinne der katholischen Theologie durchaus schlüssig ist. Aber zu den einzelnen Punkten.

Deckers erwähnt „klassisch-katholische Vorbehalte gegen eine ordo-liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“, wobei er weder die Vorbehalte nennt noch definiert, was er unter ordo-liberaler Ordnung versteht. Der Papst spricht sich jedenfalls ausdrücklich für das Recht als ordnende Kraft aus, wobei die Grenzen, die die Gesellschaft privatem Handeln setzt verknüpft sein sollen mit:

Vorausschau und Umsicht, angemessenen Reglementierungen, Überwachung der Anwendung der Vorschriften, Bekämpfung der Korruption, Aktionen wirksamer Kontrolle der unerwünschten Wirkungen der Produktionsprozesse und zweckmäßigem Eingreifen angesichts ungewisser oder möglicher Risiken. (177)

Diese Aussagen scheinen mir durchaus mit dem Ordoliberalismus vereinbar zu sein. Auch die Weltverschwörungstheorien spezifiziert Deckers nicht weiter. Man kann vermuten, dass er sich an diesen Passagen stößt:

Das technokratische Paradigma tendiert auch dazu, die Wirtschaft und die Politik zu beherrschen. Die Wirtschaft nimmt jede technologische Entwicklung im Hinblick auf den Ertrag an, ohne auf mögliche negative Auswirkungen für den Menschen zu achten. Die Finanzen ersticken die Realwirtschaft. Man hat die Lektionen der weltweiten Finanzkrise nicht gelernt, und nur sehr langsam lernt man die Lektionen der Umweltschädigung. (109)

Während das 21. Jahrhundert ein Regierungssystem vergangener Zeiten beibehält, ist es Schauplatz eines Machtschwunds der Nationalstaaten, vor allem weil die Dimension von Wirtschaft und Finanzen, die transnationalen Charakter besitzt, tendenziell die Vorherrschaft über die Politik gewinnt. (175)

Was ist daran falsch und eine Verschwörungstheorie? Im Hinblick auf die Finanzkrise kann man tatsächlich feststellen, dass sich der Finanzsektor zunächst von der Realwirtschaft losgelöst und in der Krise diesen massiv beeinträchtigt hat. Und dass die bisherigen politischen Initiativen, die globale Finanzarchitektur zu reformieren, sehr zögerlich und von Interessen der Finanzwirtschaft beeinflusst waren, behaupten nicht nur Verschwörungstheoretiker (vgl. Bieling , Rixen). Aber auch in anderen Wirtschafts- und Politikbereichen kann man eine übermäßige Rücksichtnahme der Politik auf Interessen der Wirtschaft feststellen, ohne an Verschwörungen zu glauben. Beispiele dafür gibt es zuhauf: Das Einknicken der deutschen und europäischen Politik vor der kanadischen Lobby, als es um die Verschärfung von Einfuhrrichtlinien für das extrem schmutzige Öl aus Teersand ging (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=IKEa8m-cC1A, http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-12/teersand-eu-parlament, http://www.taz.de/!5031782/), die Blockade strengerer EU-Abgasnormen durch die Bundesregierung zugunsten der deutschen Automobilhersteller (http://www.spiegel.de/auto/aktuell/co2-abgas-grenzwerte-deutschland-laesst-abstimmung-scheitern-a-908190.html) oder auch die Erlaubnis der US-Regierung für Shell, in der Arktis nach Öl zu bohren (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/energiepolitik/shell-erhaelt-genehmigung-fuer-umstrittenes-arktis-foerderprojekt-13588331.html). In jedem dieser Fälle hat die Politik Wirtschaftsinteressen den Vorrang vor anderen gesellschaftlichen Interessen eingeräumt.

Ziemlich gehässig fährt Deckers fort:

Es ist kein Trost, dass auch Franziskus dem klassischen Dilemma der sogenannten katholischen Soziallehre nicht entgeht: Moralische Intuitionen und Sozialprinzipien wie Personalität, Solidarität und Subsidiarität gingen regelmäßig mit tendenziösen Beschreibungen und unterkomplexen Analysen der Wirklichkeit einher. Das Ergebnis: bestenfalls ein geschwätziges Einerseits-anderseits, meist ein Steinbruch für Argumentationsfragmente jeder Art. „Laudato si“ ist keine Ausnahme.

Wiederum eine Pauschalaussage ohne konkrete Beispiele, die zudem falsch ist. Franziskus hat eine durchgängige Argumentationslinie, die die aufgezählten und unbestreitbaren Probleme immer wieder auf reduktionistische Denken und Verhalten zurückführt. Der Papst legt klar dar, dass er ein holistisches Weltbild hat, in dem soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Themen nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Dabei spricht er sich explizit gegen einfache Ursachenzuschreibungen und für wissenschaftliche Forschung aus. Überhaupt ist bemerkenswert, wie wissenschaftsnah der Text ist.

Nicht besser als der Kommentar von Deckers ist der Kommentar von Grossarth. Auch Grossarth findet ein paar lobende Worte und nennt die Enzyklika eine „an sich warmherzige Schrift, die lesenswert ist und auch poetisch und voller kluger Gedanken über die Folgen eines einseitig technokratischen Zeitgeistes“, bevor er dem Papst „Ignoranz“, „Ressentiments“ und „antiliberale Zerrbilder“ vorwirft. Dieser Kommentar ist etwas konkreter in seiner Kritik als der von Deckers. Jedoch verwendet auch Grossarth ein Zerrbild, das den Inhalt der Enzyklika nicht richtig wiedergibt.

Grossarth behauptet, dass in der Enzyklika „all das Gute der industriellen Gegenwart kaum“ vorkäme und dass der Papst eine „fast durchgängig pessimistische Sicht … auf Globalisierung, technischen Fortschritt, auf Unternehmen und Marktwirtschaft“ habe. Das stimmt nicht. Zum technischen Fortschritt schreibt Franziskus:

Wir sind die Erben von zwei Jahrhunderten enormer Veränderungswellen: die Dampfmaschine, die Eisenbahn, der Telegraph, die Elektrizität, das Automobil, das Flugzeug, die chemischen Industrien, die moderne Medizin, die Informatik und jüngst die digitale Revolution, die Robotertechnik, die Biotechnologien und die Nanotechnologien. Es ist recht, sich über diese Fortschritte zu freuen und angesichts der umfangreichen Möglichkeiten, die uns diese stetigen Neuerungen eröffnen, in Begeisterung zu geraten, da „Wissenschaft und Technologie ein großartiges Produkt gottgeschenkter Kreativität“ sind. … Die Technologie hat unzähligen Übeln, die dem Menschen schadeten und ihn einschränkten, Abhilfe geschaffen. Wir können den technischen Fortschritt nur schätzen und dafür danken, vor allem in der Medizin, in der Ingenieurwissenschaft und im Kommunikationswesen. Und wie sollte man nicht die Bemühungen vieler Wissenschaftler und Techniker anerkennen, die Alternativen für eine nachhaltige Entwicklung beigesteuert haben? (102)

Was der Papst kritisiert ist ein naiver Fortschritts- und Technikglaube, der jede Neuerung automatisch für Fortschritt hält und zudem eine überoptimistische Hoffnung in die technische Lösbarkeit aller Arten von Problemen hegt. Der Papst schreibt, dass technische Lösungen oft nur Teilaspekte von Problemen adressieren und oft neue Probleme verursachen. Zudem weist er völlig zurecht darauf hin, dass mit den technischen Möglichkeiten auch das Gefahrenpotential durch unverantwortlichen Gebrauch steigt, z.B. bei der Nutzung von Nuklearenergie oder Biotechnologie.

Es ist auch nicht wahr, dass der Papst Unternehmen und Marktwirtschaft nur negativ sieht:

Damit es weiterhin möglich ist, Arbeitsplätze anzubieten, ist es dringend, eine Wirtschaft zu fördern, welche die Produktionsvielfalt und die Unternehmerkreativität begünstigt. … Die Unternehmertätigkeit, die eine edle Berufung darstellt und darauf ausgerichtet ist, Wohlstand zu erzeugen und die Welt für alle zu verbessern, kann eine sehr fruchtbringende Art und Weise sein, die Region zu fördern, in der sie ihre Betriebe errichtet, vor allem wenn sie versteht, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen ein unausweichlicher Teil ihres Dienstes am Gemeinwohl ist. (129)

Allerdings weist er mit Nachdruck auf die Beschränkungen des Marktes hin:

Der Markt von sich aus gewährleistet aber nicht die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und die soziale Inklusion. (109)

Wieder einmal ist es gut, eine magische Auffassung des Marktes zu vermeiden, die zu der Vorstellung neigt, dass sich die Probleme allein mit dem Anstieg der Gewinne der Betriebe oder der Einzelpersonen lösen. Ist es realistisch zu hoffen, dass derjenige, der auf den Maximalgewinn fixiert ist, sich mit dem Gedanken an die Umweltauswirkungen aufhält, die er den kommenden Generationen hinterlässt? Innerhalb des Schemas der Rendite ist kein Platz für Gedanken an die Rhythmen der Natur, an ihre Zeiten des Verfalls und der Regenerierung und an die Kompliziertheit der Ökosysteme, die durch das menschliche Eingreifen gravierend verändert werden können. (190)

Wenn die Produktion steigt, kümmert es wenig, dass man auf Kosten der zukünftigen Ressourcen oder der Gesundheit der Umwelt produziert; wenn die Abholzung eines Waldes die Produktion erhöht, wägt niemand in diesem Kalkül den Verlust ab, der in der Verwüstung eines Territoriums, in der Beschädigung der biologischen Vielfalt oder in der Erhöhung der Umweltverschmutzung liegt. Das bedeutet, dass die Unternehmen Gewinne machen, indem sie einen verschwindend kleinen Teil der Kosten einkalkulieren und tragen. (195)

Das ist die ganz klare Feststellung, dass Gewinnmaximierung auf Märkten nicht zu gesellschaftlich optimalen Ergebnissen führt, wenn Externalitäten vorliegen, was selbst Ordoliberale nicht bestreiten.

Anschließend wirft Grossarth Franziskus vor, dass dieser eine „liberale Wirtschaftsethik“ nicht zu Kenntnis nehme, wobei unklar bleibt, was damit genau gemeint ist. Vermutlich fällt Grossarth selbst nicht viel mehr dazu ein, als dass „Eigentumsrechte … eine gute Sache [sind], denn sie sorgen dafür, dass die Menschen sorgsam mit ihrem Boden oder dem Wasser umgehen.“ Aber der Hinweis auf die segensreichen Wirkungen von Eigentumsrechte ist hier ziemlich fehl am Platz. Zum einen betreffen viele Umweltprobleme Gemeingüter wie Fischbestände, Ozeane, die Atmosphäre oder die Regenwälder. Hier gibt es keine Eigentumsrechte und es kann oder sollte sie auch nicht geben. Aber auch die Behauptung, dass Eigentum zu sorgsamem Umgang mit Ressourcen führt, ist nicht allgemein richtig. Als Beispiel mag die Wasserverschwendung der Reichen in Kalifornien gelten. Die Washington Post berichtete kürzlich über den Unwillen reicher Kalifornier, sich den allgemeinen Wassersparmaßnahmen, die angesichts der außerordentlichen Dürre verhängt wurden, zu unterwerfen. In diesem Bericht wird ein Kalifornier mit der Aussage zitiert: “Once the water goes through the meter, it’s yours.” Diese Auffassung dient zur Rechtfertigung andauernder Wasserverschwendung, z.B. zur Rasensprengung. Aber selbst wenn man dieses Beispiel auf Grund seiner moralischen Wertung nicht gelten lässt, gibt es unbestreitbar Fälle, in denen z.B. ein Landeigentümer zwar darauf achtet, dass die wirtschaftliche Ertragskraft seines Bodens erhalten bleibt, jedoch keineswegs notwendigerweise auch der Beitrag seines Landes zum Ökosystem, in das es eingebettet ist.

Der nächste Vorwurf an Franziskus ist, dass er sich von seinen südamerikanischen Erfahrungen leiten lässt und die negativen Seiten betont: „Ungleichheit des Besitzes, Landbesitz in den Händen weniger, Konzerne, die das Wasser kommerzialisieren“. Auch hier stellt sich die Frage, was daran falsch ist. Zum einen ist auch der Besitz in industrialisierten Ländern wie Deutschland oder den USA sehr ungleich verteilt, und es steht dem Papst sehr wohl zu, dies anzuprangern. Zum anderen sind die Lebensverhältnisse in Südamerika vermutlich repräsentativer für die Mehrheit der Menschheit als die Lebensverhältnisse in Europa. Ein Dreiviertel der Weltbevölkerung lebt in Ländern mit weniger als dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Daher kann ein Papst mit südamerikanischen Erfahrungen wohl besser für den Großteil der Menschen sprechen als ein europäischer es könnte.

Für Grossarth bedeutet der Kapitalismus auch Freiheit vor staatlicher Willkür, die er perfide mit einer politischen Weltautorität verknüpft, für die sich der Papst ausspricht. Wie man aus der Enzyklika ableiten kann, dass der Papst staatliche Willkür gutheißen könnte, ist völlig schleierhaft. Die Passage zur politischen Weltautorität lautet:

Während das 21. Jahrhundert ein Regierungssystem vergangener Zeiten beibehält, ist es Schauplatz eines Machtschwunds der Nationalstaaten, vor allem weil die Dimension von Wirtschaft und Finanzen, die transnationalen Charakter besitzt, tendenziell die Vorherrschaft über die Politik gewinnt. In diesem Kontext wird es unerlässlich, stärkere und wirkkräftig organisierte internationale Institutionen zu entwickeln, die Befugnisse haben, die durch Vereinbarung unter den nationalen Regierungen gerecht bestimmt werden, und mit der Macht ausgestattet sind, Sanktionen zu verhängen. Auf der Linie dessen, was bereits von der Soziallehre der Kirche entwickelt wurde, hat Benedikt XVI. bekräftigt: „Um die Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren, einer Verschlimmerung der Krise und sich daraus ergebenden Ungleichgewichten vorzubeugen, um eine geeignete vollständige Abrüstung zu verwirklichen, sowie Ernährungssicherheit und Frieden zu verwirklichen, den Umweltschutz zu gewährleisten und die Migrationsströme zu regulieren, ist das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität, wie sie schon von meinem Vorgänger, dem [heiligen] Papst Johannes XXIII., angesprochen wurde, dringend nötig.“ (175)

Zwei Absätze davor heißt es:

Dringend bedarf es internationaler Vereinbarungen, die umgesetzt werden, da die lokalen Instanzen zu schwach sind, um wirksam einzugreifen. Die Beziehungen zwischen den Staaten müssen die Souveränität eines jeden Landes bewahren, aber auch miteinander abgestimmte Wege festlegen, um lokale Katastrophen zu vermeiden, die letztlich allen schaden würden. Es fehlen globale Rahmenbestimmungen, die Verpflichtungen auferlegen und unannehmbare Handlungen wie z. B. die Tatsache, dass mächtige Länder schwer umweltschädigende Abfälle und Industrien in andere Länder abschieben, verhindern. (173)

Und weiter:

Was geschieht mit der Politik? Wir erinnern an das Prinzip der Subsidiarität, das auf allen Ebenen Freiheit für die Entwicklung der vorhandenen Fähigkeiten gewährt, zugleich aber von dem, der mehr Macht besitzt, mehr Verantwortlichkeit für das Gemeinwohl fordert. (196)

Wer könnte bestreiten, dass die internationalen politischen Bemühungen zum Schutz der globalen Gemeingüter bisher nur wenig erfolgreich waren und wirksamere Maßnahmen erforderlich sind? Offensichtlich regelt es der internationale Markt ja nicht von allein, was wirtschaftstheoretisch auch nicht zu erwarten ist.

In schwer erträglicher Form fährt Grossarth fort, Behauptungen aufzustellen, die sich nicht halten lassen, wenn man die Enzyklika auch wirklich liest. Grossarth schreibt:

Dass eines Tages kluge Kreislaufwirtschaft oder Energiewende durch technische Neuerungen möglich sein könnten, ohne den Lebensstandard zu senken, glaubt der Papst nicht.

Auch das ist nicht richtig. Die Forderung nach einer Senkung des Lebensstandards stellt er losgelöst von technischen Verbesserungen auf, weil er in einer Abkehr vom Fokus auf materielle Wohlstandsmehrung eine Chance zu Verbesserung der Lebensqualität sieht. Und die Möglichkeit zu Kreislaufwirtschaft und Energiewende sieht er sehr wohl:

Ein kreativerer und besser ausgerichteter Weg der Produktionsentwicklung könnte zum Beispiel die Tatsache korrigieren, dass es einen übertriebenen technologischen Einsatz für den Konsum gibt und einen geringen, um die unerledigten Probleme der Menschheit zu lösen; er könnte kluge und rentable Formen von Wiederverwertung, Umfunktionierung und Recycling schaffen; er könnte die Energieeffizienz der Städte verbessern und vieles mehr. Die breite Auffächerung der Produktion bietet der menschlichen Intelligenz äußerst vielfältige Möglichkeiten, zu gestalten und zu erneuern, während sie zugleich die Umwelt schützt und mehr Arbeitsplätze schafft. Das wäre eine Kreativität, die fähig ist, den eigentlichen Adel des Menschen neu erblühen zu lassen, denn es ist würdiger, mutig und verantwortungsvoll die Intelligenz einzusetzen, um im Rahmen eines weiteren Verständnisses dessen, was die Lebensqualität ausmacht, Formen nachhaltiger und gerechter Entwicklung zu finden. Umgekehrt ist es eher unwürdig, oberflächlich und weniger kreativ, auf der Schaffung von Formen der Ausplünderung der Natur zu beharren, nur um neue Möglichkeiten des Konsums und der unmittelbaren Rendite zu bieten. (192)

Grossarth reißt Aussagen aus dem Kontext, wenn er schreibt:

Der wirtschaftliche Liberalismus (symbolisiert durch Adam Smiths „unsichtbare Hand“) wird in einem Atemzug genannt mit Krankheit, Zwangsarbeit, Sklavenhaltung oder Kindesmissbrauch.

Wenn man die Textstelle richtig liest, stellt man fest, dass es Franziskus nicht darum geht, die Marktwirtschaft an sich zu diskreditieren. Er spricht zunächst auch nicht vom „wirtschaftlichen Liberalismus“, sondern von der „Kultur des Relativismus“:

Die Kultur des Relativismus ist die gleiche Krankheit, die einen Menschen dazu treibt, einen anderen auszunutzen und ihn als ein bloßes Objekt zu behandeln, indem er ihn zu Zwangsarbeit nötigt oder wegen Schulden zu einem Sklaven macht. Es ist die gleiche Denkweise, die dazu führt, Kinder sexuell auszubeuten oder alte Menschen, die den eigenen Interessen nicht dienen, sich selbst zu überlassen. Es ist auch die innere Logik dessen, der sagt: Lassen wir die unsichtbare Hand des Marktes die Wirtschaft regulieren, da ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und auf die Natur ein unvermeidbarer Schaden sind. Wenn es weder objektive Wahrheiten noch feste Grundsätze gibt außer der Befriedigung der eigenen Pläne und der eigenen unmittelbaren Bedürfnisse – welche Grenzen können dann der Menschenhandel, die organisierte Kriminalität, der Rauschgifthandel, der Handel mit Blutdiamanten und Fellen von Tieren, die vom Aussterben bedroht sind, haben? … Denn wenn die Kultur verfällt und man keine objektive Wahrheit oder keine allgemein gültigen Prinzipien mehr anerkennt, werden die Gesetze nur als willkürlicher Zwang und als Hindernisse angesehen, die es zu umgehen gilt. (123)

Franziskus sagt also, dass es moralischer Verfall ist, der zu den genannten Übeln führt. Dass die Handlungsfreiheit auf Märkten nicht nur durch Gesetze, sondern vor allem auch durch moralische Haltungen der Marktakteure eingeschränkt werden muss, findet sich bereits bei Adam Smith. Dessen Grundlegung der Volkswirtschaftslehre im Wealth of Nations muss immer gemeinsam mit seinem früheren moralphilosophischen Werk Theory of Moral Sentiments verstanden werden.

Grossarths setzt seine diffamierenden Verzerrungen fort, wenn er behauptet, der Papst hätte „kein gutes Wort“ für die Großstadt, zu der ihm nur „Verkehrsprobleme, visuelle und akustische Belästigung, Gefüge, die übermäßig viel Energie und Wasser verbrauchen, verstopft, ungeordnet, wesenfremd und naturentfremdet“ einfielen. Wieder ein vermutlich gewolltes Aus-dem-Kontext-Reißen. Die zitierte Passage leitet der Papst ein mit den Worten „Heute beobachten wir zum Beispiel das maßlose und ungeordnete Wachsen vieler Städte, die für das Leben ungesund geworden sind“ (44). Damit ist klar, dass der Papst nicht über Frankfurt oder Münster spricht, sondern eher über São Paulo, Lagos oder Delhi. Er sieht sehr wohl positive Aspekte von Städten, wenn er im Absatz 143 die Bedeutung des historischen, künstlerischen und kulturellen Erbes betont und in 152 aus dem Apostolische Schreiben Evangelii gaudium zitiert:

Zugleich müsste die Kreativität dazu führen, die problematischen Quartiere in eine gastfreundliche Stadt einzufügen. „Wie schön sind die Städte, die das krankhafte Misstrauen überwinden, die anderen mit ihrer Verschiedenheit eingliedern und aus dieser Integration einen Entwicklungsfaktor machen! Wie schön sind die Städte, die auch in ihrer architektonischen Planung reich sind an Räumen, die verbinden, in Beziehung setzen und die Anerkennung des anderen begünstigen!“

Zu guter Letzt unterstellt Grossarth dem Papst, er wolle zurück in vorindustrielle Zeiten, weil er sich auf den „radikalen Aussteiger“ Franziskus bezieht. Für Grossarth ist „die Rückkehr dahin … eine schreckliche Vorstellung“. Auch hier ist festzustellen, dass Grossarth die Enzyklika entweder nicht richtig gelesen hat oder mit Absicht missversteht. Wie bereits zuvor erwähnt, lobt der Papst ausdrücklich die technischen Errungenschaften der Moderne. In Absatz 114 schreibt er:

Niemand verlangt, in die Zeit der Höhlenmenschen zurückzukehren, es ist aber unerlässlich, einen kleineren Gang einzulegen, um die Wirklichkeit auf andere Weise zu betrachten, die positiven und nachhaltigen Fortschritte zu sammeln und zugleich die Werte und die großen Ziele wiederzugewinnen, die durch einen hemmungslosen Größenwahn vernichtet wurden.

In Vorwegnahme von Anwürfen wie die von Grossarth schreibt er auch:

Wenn diese Fragen aufgeworfen werden, reagieren einige mit der Anschuldigung, man wolle gegen alle Vernunft den Fortschritt und die menschliche Entwicklung aufhalten. Wir müssen uns jedoch davon überzeugen, dass die Verlangsamung eines gewissen Rhythmus von Produktion und Konsum Anlass zu einer anderen Art von Fortschritt und Entwicklung geben kann. Die Anstrengungen für eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen sind kein nutzloser Aufwand, sondern eine Investition, die mittelfristig andere wirtschaftliche Gewinne bieten kann. Wenn wir nicht engstirnig sind, können wir entdecken, dass die vielseitige Gestaltung einer mehr innovativen und weniger umweltschädlichen Produktion rentabler sein kann. Es geht darum, den Weg für andere Möglichkeiten zu öffnen, die nicht etwa bedeuten, die Kreativität des Menschen und seinen Sinn für Fortschritt zu bremsen, sondern diese Energie auf neue Anliegen hin auszurichten. (191)

Um es noch einmal zu sagen: Der Papst ist in dieser Enzyklika nicht per se technik- und fortschrittsfeindlich. Er ruft aber mit Nachdruck dazu auf, die Folgen technischer Errungenschaften zu überdenken und Fortschritt weiter zu definieren als es gemeinhin getan wird. Daraus zu schließen, der Papst wolle zurück in eine heile, vorindustrielle Welt ist absurd.

Warum reagieren Journalisten einer liberalen, bürgerlichen Zeitung so polemisch und unsachlich auf das Schreiben des Papstes und verweigern eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Inhalten?

Ein Faktor ist sicher der Kotau vor der liberalen, wirtschaftsnahen Leserschaft der FAZ, die es gerne sieht, wenn ihr business as usual verteidigt wird, mit welchen Argumenten auch immer. Aber das greift als alleinige Erklärung zu kurz. Womöglich kommt auch eine intellektuelle, antiklerikale Pose hinzu, die von vornherein mit Vorbehalten auf Erklärungen religiöser Führer reagiert, welche in einer vorrationalen Zeit angesiedelt werden. Gerade der Liberalismus sieht sich in einer historischen Gegnerschaft zur Kirche, selbst wenn diese gar keinen weltlichen Herrschaftsanspruch mehr stellt, sondern nur als moralische Instanz auftritt.

Der eigentliche Grund ist aber vermutlich, dass der Papst den Finger auf einen wunden Punkt legt, indem er die beschriebenen Probleme letztlich auf den „kulturellen Relativismus“ und den daraus folgenden „fehlgeleiteten Lebensstil“ zurückführt. Der höchste liberale Wert ist die individuelle Freiheit, die es dem einzelnen erlaubt, so zu leben, wie er möchte, so lange die Freiheitsrechte anderer nicht verletzt werden. Wenn der Papst betont, dass es auch andere Werte geben kann und es kaum denkbar ist, dass das Individuum seinen Lebenssinn und Lebenszweck aus sich selbst heraus definiert, unabhängig von anderen und einem größeren Ganzen, wird das als gefährlicher Angriff auf die eigenen Glaubenssätze aufgefasst.

Dass es einer sehr großen Zahl von Menschen in der Postmoderne nicht gelingt, aus sich selbst heraus ihrem Leben einen Sinn zu geben, lässt sich an vielen Symptomen ablesen. Viele suchen Sinn, Orientierung und Halt in einer sie überfordernden Welt außerhalb ihrer selbst. Da die traditionellen Kirchen zumindest in Europa an Legitimität verloren haben, gibt es eine Hinwendung zu allen möglichen Anbietern von Orientierung. Wie anders ist die wachsende Popularität des Dalai Lama und des Buddhismus, das erneute Florieren von Yoga-Schulen und New-Age-Angeboten und im Extrem leider auch die Zuwendung zum salafistischen Extremismus zu erklären?

Genau hier setzt der Papst an, wenn er den „Konsumismus“ kritisiert. Sein Argument ist, dass es im Interesse von gewinnmaximierenden Unternehmen ist, orientierungslosen Menschen vorzugaukeln, dass der Konsum von Gütern und Dienstleistungen Sinn und Identität stiften kann. Er schreibt:

Dieses Modell wiegt alle in dem Glauben, frei zu sein, solange sie eine vermeintliche Konsumfreiheit haben, während in Wirklichkeit jene Minderheit die Freiheit besitzt, welche die wirtschaftliche und finanzielle Macht innehat. In dieser Unklarheit hat die postmoderne Menschheit kein neues Selbstverständnis gefunden, das sie orientieren kann, und dieser Mangel an Identität wird mit Angst erfahren. Wir haben allzu viele Mittel für einige dürftige und magere Ziele. (203)

Die gegenwärtige Situation der Welt „schafft ein Gefühl der Ungewissheit und der Unsicherheit, das seinerseits Formen von kollektivem Egoismus […] begünstigt“. Wenn die Menschen selbstbezogen werden und sich in ihrem eigenen Gewissen isolieren, werden sie immer unersättlicher. Während das Herz des Menschen immer leerer wird, braucht er immer nötiger Dinge, die er kaufen, besitzen und konsumieren kann. In diesem Kontext scheint es unmöglich, dass irgendjemand akzeptiert, dass die Wirklichkeit ihm Grenzen setzt. Ebenso wenig existiert in diesem Gesichtskreis ein wirkliches Gemeinwohl. (204)

Der Papst hat völlig recht, darauf hinzuweisen, dass unseren Gesellschaften eine gemeinsame Debatte über gesellschaftliche Ziele, Gemeinwohl und ein gutes Leben wohl täte und dass eben nicht zwangsläufig ein soziales Optimum entsteht, wenn jeder allein seine wahren oder vermeintlichen Ziele verfolgt.

 

 

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