In der aktuellen Ausgabe des Magazins Agora42 gab der Bundesvorsitzende der FDP, Christian Lindner, ein aufschlussreiches Interview. Es geht darin um Lindners Sicht auf Wachstum und Fortschritt, die jeweiligen Rollen von Markt und Staat in der Gesellschaft, die Herausforderungen der Zukunft und natürlich um Freiheit.
Zwei Äußerungen daraus reizen mich zum Widerspruch, so dass ich sie gern kommentieren möchte. Die beiden Äußerungen stehen ganz am Anfang und ganz am Ende des Interviews. Ich möchte mit der letzten beginnen. Die Interviewer stellen folgende Frage:
Wir leben in einer Zeit, in der alles im Wandel begriffen ist, die nächste Krise jederzeit hereinbrechen kann und in der keinerlei Planungssicherheit besteht. Ist es da sinnvoll, den Druck aufzubauen, unbedingt ökonomisch mithalten zu müssen? Sollte man nicht lieber sagen: „Leute, egal, was passiert, wir bekommen das gemeinsam hin. Wir verlieren wahrscheinlich Wohlstand, aber wir werden das durch soziale Fortschritte, durch neue Formen des Zusammenlebens mehr als kompensieren“?
Lindners Antwort finde ich überaus bemerkenswert:
Für mich hört sich das zu sehr nach Defensive, nach Entschuldigung oder gar nach Kapitulation an. Es sollte ein Auftrag der Politik sein, den Menschen Angst zu nehmen. Und ihnen dadurch Sicherheit zu geben, dass man sie stark macht. Ich finde, das Ehrlichste, was wir den Menschen sagen können, ist, dass wir uns vor dem Wandel nicht verstecken können. Dass er kommt und dass es darum geht, ihn zu gestalten. Wir sehen Veränderungen immer alle so negativ. Nein, ich glaube, dass mit neuen technischen Möglichkeiten und einer anderen inneren Einstellung für 80 Millionen Deutsche Chancen verbunden sind – und nicht Verlustängste programmiert sein müssen. Das, was uns bevorsteht, ist großartig! Ich glaube, dass die besten Zeiten noch kommen, wenn wir es richtig angehen.
Ich frage mich, in welcher Welt Herr Lindner lebt. Täglich erreichen uns Krisenmeldungen, die weit über mögliche ökonomische Einschränkungen für 80 Millionen Deutsche hinausgehen. Man könnte eine lange Liste machen, aber ich will nur drei Beispiele herausgreifen.
Heute konnte man bei Spiegel Online lesen, dass durch Wilderei und Landwirtschaft 60% aller großen Pflanzenfresser vom Aussterben bedroht sind. Nach einer Studie hat dies gravierende Auswirkungen auf das Ökosystem und birgt erhebliche ökonomische Risiken für die Bevölkerungen der betroffenen Länder. Am 27.4. berichtete Die ZEIT Online über eine aktuelle Studie zu den Auswirkungen des Klimawandels auf das Wetter. Nach dieser Studie verursache der Klimawandel bereits heute 75% der Hitzewellen weltweit und 20% der extremen Niederschläge. Wenn sich die globale Temperatur um 2% gegenüber dem vorindustriellen Referenzwert erhöht, werde sich die Wahrscheinlichkeit von Hitzetagen verfünffachen, und 40% der Extremniederschläge seien dann klimabedingt. Ebenfalls bei Die ZEIT Online wurde am 14.4. eine Studie erwähnt, nach welcher der Klimawandel ein weltweites Sicherheitsproblem sei. Die Studie wurde von den G7-Außenministern in Auftrag gegeben und nennt unter anderem Krieg um Wasser oder durch Dürren hervorgerufene Massenwanderungen als Beispiele.
Wie kann Herr Lindner angesichts solcher Meldungen behaupten, dass die besten Zeiten noch kommen? Ich halte drei Erklärungen für denkbar. Die erste wäre, dass Herr Lindner diese Probleme nicht kennt, sie verdrängt oder ihr Ausmaß leugnet. Ohne ihn besser zu kennen, kann ich mir jedoch nicht vorstellen, dass Herr Lindner solche Nachrichten nicht zur Kenntnis nimmt oder wissenschaftliche Studien anzweifelt. Wahrscheinlicher scheint mir, dass er, wie so viele, diese globalen Probleme nicht an sich heranlassen will, um nicht vom Ausmaß der Schwierigkeiten überwältigt zu werden.
Eine andere Erklärung könnte sein, dass er sich lieber mit dem Wohlergehen der Deutschen beschäftigt als dem der Menschen in anderen Ländern oder gar dem Wohlergehen von Fauna und Flora. Darin könnte sich Gleichgültigkeit äußern oder eine Verkennung der Tatsache, dass die Deutschen nicht vom Rest der Welt isoliert leben. Auch wenn es jetzt noch nicht direkt bei uns spürbar sein mag, werden der Klimawandel und globale Sicherheitsprobleme auch uns betreffen.
Die wohlwollendste Mutmaßung ist, dass Herr Lindner wirklich zutiefst von der menschlichen Problemlösungskompetenz überzeugt ist und einen festen Glauben an technische Lösungen aller Probleme hat. In der Tat äußert er im restlichen Interview die Überzeugung, dass menschliche Vernunft, technischer Fortschritt und individuelle Verantwortung für eine bessere Zukunft sorgen werden.
Ich halte diese Überhöhung der menschlichen Vernunft und Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für unhaltbar und gefährlich. Die Gegenbeispiele sind Legion: Politisches Versagen (man denke an die Kriege im Irak und Afghanistan oder die Nichtlösung der Eurokrise), unternehmerisches Versagen (die Geschäfte der WestLB, die Daimler-Chrysler-Fusion, das Ignorieren der Energiewende durch die Stromversorger), persönliche Fehlentscheidungen, bekannt aus Alltag und Verhaltensforschung. Es mag sogar sein, dass unter den jeweiligen Anreizen und Institutionen viele Individualentscheidungen in irgendeinem Sinn rational sind. Aber die aggregierten Ergebnisse sind es oft nicht. Und der Glaube an die Erlösung durch technischen Fortschritt ist zumindest naiv. Welche Hoffnungen hat man nicht in die Kernkraft gesetzt? Oder den Bau von riesigen Staudämmen zur umweltfreundlichen Energiegewinnung? Oder die Segnungen der modernen hochtechnisierten Medizin? All diese Errungenschaften kann man auch viel kritischer sehen als es häufig getan wird. Ich werde darauf in späteren Beiträgen zurückkommen.
Die andere interessante Bemerkung ist die Antwort auf folgende Frage:
Die Leitbegriffe Wachstum, Wohlstand und Fortschritt, die für die Industrienationen des Westens prägend waren, sind widersprüchlich geworden. Sie haben ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Müssen wir uns auf die Suche nach neuen Leitbegriffen machen?
Lindner:
Die Begriffe Wachstum, Wohlstand und Fortschritt sind im kritischen Diskurs – insbesondere von der politischen Linken – unter einen Generalverdacht gestellt worden. Die westlichen Gesellschaften neigen zu einer Art Selbstbezichtigung. Da möchte ich nicht mitmachen. Da ist mir zu viel schlechte Laune im Spiel.
„Zu viel schlechte Laune“! Das erinnert stark an die ehemalige Spaßpartei. Natürlich erscheint dem Optimisten der Bedenkenträger als Spaßverderber. Aber Pessimisten sehen die Welt oft klarer als Optimisten und beschäftigen sich auch mit Plänen B und C. Sorge macht wachsam und kritisch. Zudem scheint mir gute Laune das falsche Kriterium für gute Politik und sorgfältige gesellschaftliche Analyse zu sein. Die von Herrn Lindner beschworene Verantwortung kann auch bedeuten, dass man vor Unangenehmem nicht wegsieht oder abtaucht. Eine Verantwortung, die man nur übernimmt, wenn sie Spaß macht, ist nichts wert.
Zudem erscheint es mir zynisch, es als schlechte Laune zu bezeichnen, was viele Kritiker des business as usual angesichts der existenziellen Fragen empfinden. Vielen Wachstumskritikern dürfte es weniger darum gehen, Hedonisten den Spaß zu verderben als darum, wie man die Welt besser und gerechter machen und großes Leid verhindern kann.