Rückwärtsgewandte Makroökonomik

Die gegenwärtige Makroökonomik ist eine auf die Vergangenheit gerichtete Wissenschaft. Die Makroökonomik entstand als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, als es sehr offensichtlich war, dass Arbeitslosigkeit und geringe gesamtwirtschaftliche Produktion keineswegs nur kurzfristige Phänomene sein müssen, wie man zuvor gedacht hatte. John Maynard Keynes wollte mit seiner „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ erklären, wie es zu gesamtwirtschaftlichen Störungen kommen kann, die sich nicht von selbst beseitigen. Den nächsten größeren Entwicklungsschub erhielt die Makroökonomik in den 1970er Jahren mit dem Auftreten der Stagflation, also hoher Inflation bei gleichzeitiger Stagnation der Produktion. Auch dieses Phänomen überraschte und erschütterte die Volkswirtschaftslehre und führte zur mikrofundierten Makroökonomik. Durch die Herleitung makroökonomischer Beziehungen aus mikroökonomischen Kalkülen sollten robustere Modelle als die zuvor vorherrschenden makroökonometrischen Strukturmodelle entstehen. Anfang der 2000er Jahre versuchten viele Makroökonomen dann, die „Große Moderation“ (great moderation) zu erklären. Darunter versteht man die seit Mitte der 1980er Jahre beobachtete Abschwächung der Konjunkturschwankungen. Gegenwärtig ist ein großer Teil der Makroökonomik damit beschäftigt, zu erklären und zu modellieren, wie es zur weltweiten Finanzkrise und der nachfolgenden tiefen Rezession kommen konnte. Auch dieses Ereignis kam für die meisten Makroökonomen völlig überraschend.

Die Makroökonomik wurde also in ihrer Geschichte mehrfach von neuen Phänomen überrascht und war im Anschluss an diese Ereignisse lange Zeit darauf konzentriert, die vergangene Entwicklung zu verstehen und theoretisch zu verarbeiten. In diesem Sinne ist sie also eine rückwärtsgewandte Wissenschaft.

Von einer Gesellschaftswissenschaft könnte man jedoch erwarten, dass sie nicht nur ex post beobachtete Phänomene erklärt, sondern auch neue Ereignisse und Entwicklungen antizipiert. Dass eine solche gesellschaftliche Erwartung besteht, zeigen die überaus kritischen Reaktionen vieler Medien auf das Versäumnis der Volkswirtschaftslehre, vor der drohenden Finanzkrise zu warnen (vgl. Handelblatt, FAZ). Auch haben Ökonomen als Politikberater an Kredit verloren, wie der harsche Umgang von Spitzenpolitikern mit Volkswirten zeigt (vgl. http://www.welt.de/wirtschaft/article131431998/Merkel-haelt-Top-Oekonomen-fehlerhafte-Prognosen-vor.html, http://www.welt.de/wirtschaft/article134280511/Bundeskanzlerin-brueskiert-ihre-eigenen-Berater.html). Nun darf man nicht naiv sein und erwarten, dass sich eine Bundesregierung artig bedankt und Besserung gelobt, wenn sie von ökonomischen Sachverständigen für ihre Politik kritisiert wird. Jedoch zeigen der respektlose Umgang der Generalsekretärin der SPD mit den Mitgliedern des Sachverständigenrates und die öffentliche Geringschätzung durch die Bundeskanzlerin, dass Ökonomen in der Öffentlichkeit wenig Rückhalt haben und Politiker sich ein solches Verhalten leisten oder damit sogar bei den Wählern punkten können.

Eine andere Erwartung ist, dass Gesellschaftswissenschaften Orientierungswissen liefern sollen, wie man gesellschaftliche Änderungen bewirken kann. Unsere Welt ist mit zahlreichen gravierenden Problemen konfrontiert, die in vielfältiger Weise miteinander verbunden sind. Man denke an Umweltverschmutzung und Klimawandel, wachsende nationale und internationale Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, soziale Ausgrenzung und nationale und internationale Konflikte. Durch ihre Vernetzung haben diese Probleme einen Komplexitätsgrad erreicht, der ihre Bewältigung durch politische Einzelmaßnahmen unwahrscheinlich macht. Vielmehr bedarf es großer gesellschaftlicher Transformationen, um all diese Probleme bewältigen zu können. Das dazu erforderliche Orientierungswissen kann nicht von einer Wissenschaft allein geliefert werden, aber jede, also auch die Makroökonomik, sollte dazu ihren Beitrag leisten. Dies tut die Makroökonomik aber gegenwärtig kaum.

Das Nachdenken über alternative Gesellschaftsentwürfe oder grundsätzliche Fragen der Wirtschaftsordnung ist der Makroökonomik fremd. Solche Bemühungen werden als spekulativ und wenig wissenschaftlich empfunden. Die Makroökonomik sieht sich kaum als kritische Gesellschaftswissenschaft. Gesellschaftsanalyse und –kritik erfordern explizite Werturteile. Diese scheuen die meisten Makroökonomen und halten andere dafür zuständig. Eine weitverbreitete Auffassung in der Volkswirtschaftslehre ist, dass gesellschaftliche Ziele im politischen oder gesellschaftlichen Diskurs ermittelt werden müssen und die VWL lediglich erklären kann und soll, wie diese Ziele effizient erreicht werden können.

In der Idealvorstellung vieler Ökonomen ist die Volkswirtschaftslehre eine wertfreie Wissenschaft, die wie eine Naturwissenschaft Gesetzmäßigkeiten erkennt und diese wie eine Ingenieurswissenschaft zur Lösung praktischer wirtschaftspolitischer Probleme anwendet. Gerade die Makroökonomik hält viel darauf, eine empirische Wissenschaft zu sein. Ihre Wissenschaftlichkeit leitet sie aus dem Gebrauch von Mathematik und Statistik her. Tatsächlich ist die Entwicklung der Ökonometrie, d.h. den statistischen Methoden der Wirtschaftswissenschaft, eng mit der Entwicklung der Makroökonomik verbunden. Bezeichnenderweise ging der erste Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaft 1969 an die beiden Ökonometriker Ragnar Frisch und Jan Tinbergen, die beide auch an makroökonomischen Themen gearbeitet hatten. Mit der Schaffung des Nobel-Gedächtnispreises erhielt die Wirtschaftswissenschaft einen herausgehobenen Status unter den Sozialwissenschaften und wurde quasi auf eine Stufe mit den Naturwissenschaften Physik und Chemie gestellt.

Aus der engen Verbundenheit der Makroökonomik mit der Ökonometrie ergibt sich, dass die Makroökonomik ihr Wissen weitgehend aus der quantifizierbaren Vergangenheit erwirbt. Trotz dieses Vergangenheitsbezugs ist sie geschichtsvergessen und hat nur wenig Sinn für historische Bedingtheit und die Vorstellung von historischen Epochen und Transformationen. Daraus ergibt sich eine Phantasielosigkeit gegenüber der Zukunft, die weitgehend als Fortschreibung vergangener Entwicklungen gesehen wird. Auf dieser Grundlage muss jedes Nachdenken über mögliche zukünftige Entwicklungen, das über reine ökonometrische Prognosen hinausgeht, als unwissenschaftliche Spekulation erscheinen. Es täte der Makroökonomik aber gut anzuerkennen, dass sie trotz aller Mathematik und Ökonometrie nicht wie eine Naturwissenschaft sein kann, weil ihr Erkenntnisobjekt nicht allein mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden kann. Mathematik und Ökonometrie sind ohne Zweifel hilfreiche und mächtige Werkzeuge. Aber sie reichen nicht aus, um in einem komplexen, sich permanent ändernden System, das zudem auf die Erkenntnisse der Wissenschaft reagiert, unveränderliche Wahrheiten zu entdecken. Letztlich bleiben alle Aussagen der Makroökonomik, also auch solche über Vergangenheit und Gegenwart in einem gewissen Sinn spekulativ und können nie als Wahrheit betrachtet werden.

Durch ihre Abgrenzung von den anderen Gesellschaftswissenschaften und ihre Selbstbeschränkung auf „wertfreie“, quantifizierbare Forschung, die nicht spekuliert, sondern nüchtern analysiert und technokratische Empfehlungen gibt, verweigert die Makroökonomik der Gesellschaft einen wichtigen Dienst. Sie verweigert ihren Beitrag zur Schaffung von Orientierungswissen und zur Gestaltung einer besseren Weltordnung. Dies ist verhängnisvoll, da die gesellschaftliche Ordnung die Wirtschaftsordnung einschließt und nicht unabhängig von ökonomischen Zusammenhängen gedacht werden kann. Für viele Klima- und Umweltwissenschaftler ist mittlerweile klar, dass der Klimawandel und die Umweltzerstörung nur durch Änderungen im Bereich der Wirtschaft bewältigt werden können.

Die Vorstellung vieler Ökonomen, dass man die Ermittlung und Diskussion gesellschaftlicher Ziele von ihrer Erreichung trennen könnte, ist naiv und gefährlich. Sie ist naiv, weil sie verkennt, dass politische Entscheidungsträger und gesellschaftliche Interessengruppen kein Interesse daran haben, sich auf gesellschaftliche Ziele zu verständigen und dann die Ökonomen zu befragen, wie man diese nun am besten erreichen kann. Die Bestimmung gesellschaftlicher Ziele und ihre Umsetzung sind schon auf Grund der verteilungspolitischen Dimension untrennbar miteinander verbunden. Auch bestimmt das realpolitisch Machbare immer das Was und Wie der Politik.

Die Weigerung der Makroökonomik, gesellschaftliche Entwicklungen selbst vorzudenken und vorzuschlagen ist aber auch gefährlich, zunächst für sie selbst. Eine Wissenschaft, die sich selbst dem gesellschaftlichen Diskurs über solche Fragen entzieht, geht das Risiko ein, gesellschaftlich irrelevant oder zur Legitimierung von Partikularinteressen missbraucht zu werden. Aber selbst wenn die Makroökonomik auf dem Standpunkt beharren will, sich nicht auf eine Diskussion gesellschaftlicher Ziele einzulassen, sollte sie sich stärker darum bemühen, in die Zukunft zu schauen. Auch ohne direkt Stellung zu beziehen, welcher Grad an gesellschaftlicher Vermögensungleichheit tolerabel ist oder welches Klimaziel angestrebt werden sollte, könnte die Makroökonomik danach streben, begründete Aussagen über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen von Vermögensungleichheit und Klimawandel zu machen. Wenn die Makroökonomik solche Vorhersagen nicht liefern möchte, übernehmen es andere, die möglicherweise schlechtere Argumente haben.

 

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