Das große Ganze

Wie viele andere Wissenschaften auch verfolgt die Volkswirtschaftslehre einen reduktionistischen Ansatz. Komplizierte Sachverhalte werden in einfachere Teilprobleme zerlegt und diese dann unter Vernachlässigung der anderen Aspekte und des Zusammenhangs mit anderen Teilproblemen analysiert. Diese Vorgehen spiegelt sich sowohl bei der Modellbildung wider als auch in der Organisation der Wissenschaft. Wenn Ökonomen ein Modell eines Sachverhalts aufstellen, konzentrieren sie sich auf die „wesentlichen“ Aspekte und vernachlässigen jene, die für die zu untersuchende Frage „weniger relevant“ sind. Was das bei als „wesentlich“ und „weniger relevant“ angesehen wird, hängt von der Intuition oder Erfahrung des Modellbauers oder der herrschenden Konvention im Fach ab. Bis 2008 besagte die Konvention in der Makroökonomik, dass Finanzmärkte für die Analyse von Konjunkturschwankungen weniger relevant sind.
Aber auch für das Fach als Ganzes gilt eine solche Segmentierung. Arbeitsmarktökonomen untersuchen die Funktionsweise des Arbeitsmarktes und Industrieökonomen die Organisation von und das Verhalten auf Märkten mit unvollkommenem Wettbewerb. Die Finanzmarktökonomik analysiert die Preisbildung auf Finanzmärkten und die Außenwirtschaft internationale Güter- und Kapitalströme. Die Neue Politische Ökonomie wendet die Methoden der Wirtschaftswissenschaft an, um kollektive Entscheidungen zu erklären, und die Makroökonomik erforscht die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Aggregate. Es gibt natürlich auch Überschneidungen zwischen den Fächern, aber im Wesentlichen sind die Forschungsbereiche getrennt. Dies ist zu einem gewissen Grad auch unvermeidlich, da jeder Forschungsbereich über eigene Methoden verfügt und spezielle Detailfragen untersucht. Da kaum jemand alle Forschungsansätze beherrschen und alle einschlägigen Arbeiten verschiedener Forschungsbereiche kennen kann, ist eine Spezialisierung in Forschung und Lehre unvermeidlich.
In der Realität hängen alle in der Forschung getrennten Themen aber zusammen. Dies wurde durch die globale Finanzkrise schmerzlich bewusst. Diese Krise hat sehr viele Facetten, so dass es eine Vielzahl an Erklärungen gibt, was denn nun ihre „eigentliche“ Ursache war. Eine populäre Erklärung ist die zu laxe Geldpolitik der US-Zentralbank, die die Zinsen in den USA zu lange zu niedrig hielt und damit einen Kreditboom und eine Immobilienpreisblase auslöste. Dem gegenüber steht die Hypothese der weltweiten „Ersparnisschwemme“ (savings glut), die zu extrem niedrigen langfristigen Zinsen führte. Eine Ursache des hohen Kapitalangebots wird im Sparverhalten der aufstrebenden chinesischen Mittelschicht gesehen, die auf Grund unzureichender Sozialsysteme in China selbst Vorsorge für Not und Alter leisten muss. Eine andere Erklärung ist die Finanzmarktderegulierung und die politisch gewünschte Förderung des Immobilienerwerbs für benachteiligte Haushalte, die dazu führte, dass im großen Maße sogenannte Subprime-Darlehen vergeben und diese dann verbrieft und in Form komplexer Finanzprodukte weltweit gestreut wurden. Wieder andere Erklärungen heben den „search for yield“ von Finanzinstituten und ihr unzureichendes Risikomanagement hervor. Auch dafür, wie die Finanzkrise zu einer weltweiten, tiefen Rezession wurde, gibt es zahlreiche Erklärungen.
Interessant ist, dass die Volkswirtschaftslehre als Ganze von der Krise überrascht wurde, viele Einzelne jedoch alarmierende Teilaspekte frühzeitig erkannt hatten. So warnten Außenwirtschaftsexperten bereits einige Jahre zuvor vor dem hohen Leistungsbilanzdefizit der USA, das auf einen enormen Kapitalimport hinwies. Auch die niedrige Sparquote und die hohe private Verschuldung der US-Bürger wurden von Makroökonomen registriert. Es gab auch Ökonomen, wie den Nobelpreisträger Robert Shiller, die erkannt hatten, dass es eine US-Immobilienpreisblase gab, und andere, die vor einer Instabilität des Finanzsektors warnten. Es gab aber niemanden, der all diese Aspekte vor der Krise miteinander verbinden und damit das Ausmaß der folgenden Krise absehen konnte. Es fehlte also am Denken in größeren Zusammenhängen, am Verständnis für das Gesamtsystem.
Dieser Mangel an systemischem oder holistischem Denken ist symptomatisch für das Fach im Allgemeinen und keine Ausnahme, die nur für den pathologischen Sonderfall der Finanzkrise relevant ist. Die Finanzkrise zeigte lediglich mit starker Wucht, wozu Blindheit durch reduktionistisches Denken führen kann. Es steht zu befürchten, dass reduktionistisches Denken auch bei anderen Problemen zu kurz greift. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die andauernde Krise im Euroraum, die für jeden sichtbar macht, dass ökonomische, politische und kulturelle Fragen aufs engste miteinander verwoben sind und eine rein ökonomische Analyse der Komplexität der Lage nicht gerecht wird. Das Verhalten der griechischen Regierungen in den letzten Jahren ist ohne eine Betrachtung der geschichtlichen und kulturellen Hintergründe kaum zu verstehen (vgl. FAZ, Welt). So beschreibt Thomas Grüter in einem interessanten Beitrag, dass Griechenlands Gesellschaftsform ein lange gewachsener Klientelismus ist, der anders funktioniert als zentraleuropäische Marktwirtschaften. Dass die Troika nun seit fünf Jahren nur wenig Erfolg damit hat, die Probleme in und mit Griechenland zu lösen, kann durchaus an der Missachtung der besonderen Gesellschaftsform in Griechenland liegen:

Die Troika als Vertreter der Gläubiger scheint diese Zusammenhänge zu ignorieren, sie geht verbissen davon aus, dass Griechenland eine funktionierende Marktwirtschaft ist. Sie stellt einfach fest, dass bestimmte Leistungen im internationalen Vergleich zu teuer sind und verlangt Abhilfe. Das ist aber vollkommen unsinnig und hat katastrophale Folgen für die Bevölkerung.

Auch andere Probleme sind in vielfältiger Weise miteinander verwoben. Man denke an globale Sicherheitsrisiken, die durch den Klimawandel ausgelöst werden. In seinem Hauptgutachten 2007 beschreibt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), wie der Klimawandel besonders in schwachen Staaten zu erheblichen Verteilungskonflikten z.B. um Wasser oder Nahrungsmittel führen kann. Solche Konflikte könnten sich auch über nationale Grenzen ausbreiten und somit zu internationalen Sicherheitsrisiken werden. Es ist auch wahrscheinlich, dass der Klimawandel und die durch ihn hervorgerufenen Konflikte zu einer Migration ungesehenen Ausmaßes führen werden. Einige Wissenschaftler sehen im Klimawandel eine der Ursachen für den Syrienkonflikt, so dass die Syrienflüchtlinge, die gegenwärtig nach Europa drängen, die Vorboten zukünftiger Klimamigranten sein könnten.
Die Bewältigung des Klimawandels wird nicht ohne eine erhebliche Transformation der globalen Wirtschaft möglich sein. Dies ist sowohl dann der Fall, wenn er durch eine rasche Dekarbonisierung in den nächsten Jahren in der Nähe des politischen 2-Grad-Ziels begrenzt werden soll, als auch dann, wenn eine frühzeitige Begrenzung nicht möglich ist und erhebliche Anpassungen an seine Folgen erforderlich sind. Diese Transformation vorzubereiten und zu begleiten, ist auch eine wirtschaftswissenschaftliche Aufgabe. Aber wie im Fall der Finanzkrise und der Griechenlandkrise steht zu befürchten, dass Ökonomen mit einer zu engen Perspektive zu fehlerhaften oder unzureichenden Schlussfolgerungen kommen.
Leider sind Ökonomen im systemischen, interdisziplinären Denken kaum geschult und gegenwärtig häufig wenig daran interessiert. Das fehlende systemische Denken beginnt, wie bereits erwähnt, schon innerhalb der eigenen Disziplin. Es gibt zur Zeit kein etabliertes Fach an den Universitäten, in dem angehenden Ökonomen beigebracht würde, wie man die Erkenntnisse aus den Teilbereichen der VWL zusammenführen und zur Analyse realweltlicher Probleme anwenden könnte. Es ist klar, dass eine solche Synthese nicht in einem gigantischen formalen Modell erfolgen kann. Also muss die Synthese auf einer Metaebene erfolgen und sich von den einzelnen Modellen aus den Teilbereichen der Volkswirtschaftslehre lösen. Es steht zu vermuten, dass bis auf eine sehr kleine Zahl von Ökonomen mit einer sehr gut entwickelten ökonomischen Intuition kaum jemand weiß, wie man dies leisten kann. Bis vor ca. 10 Jahren gab es an vielen deutschen Universitäten noch das Fach Wirtschaftspolitik, das oft den Anspruch hatte, sich umfassend mit Problemen der aktuellen Wirtschaftspolitik zu befassen und in der regen wenig formal war. Dieses Fach ist heute nahezu verschwunden und gilt vielen als überholt und unwissenschaftlich. Diese Position wurde im sogenannten Kölner Ökonomenstreit vor einigen Jahren vor allem von vielen jüngeren Ökonomen vehement vertreten.
Viele Argumente, die gegen das Fach Wirtschaftspolitik vorgebracht wurden haben sicher ihre Berechtigung, z.B. dass in vielen Fällen tatsächlich eher normativ oder ideologisch argumentiert wurde und wenig Bezüge zur Wirtschaftstheorie und zur empirischen Forschung bestanden. Das sind aber eher Argumente dagegen, wie das Fach ausgefüllt wurde, und weniger Argumente gegen das Fach an sich. Ein integratives Fach, dass sich damit beschäftigt, wie man die Erkenntnisse aus Teilbereichen der Volkswirtschaftslehre zusammenbringen kann, halte ich für dringend erforderlich. Ebenso halte ich es für sehr wichtig, dass sich Ökonomen stärker auf ihre Nachbardisziplinen wie die Soziologie oder die Politikwissenschaft einlassen und sich verstärkt für die Erkenntnisse noch weiter entfernter Wissenschaften, die sich mit dem Klimawandel befassen, interessieren. Dies setzt aber eine methodische Öffnung der Volkswirtschaftslehre voraus, von der wir noch weit entfernt sind. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Ökonomen überhaupt erst einmal damit beginnen, sich ernsthaft mit Methodologie beschäftigen. Erst dann wird es möglich sein, Methoden zu entwickeln, die es erlauben, sich wissenschaftlich mit dem großen Ganzen zu beschäftigen.

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