Was haben sich Ökonomen und Journalisten in den vergangenen fünf Jahren die Köpfe heiß geredet über den richtigen Weg, Griechenland aus der Krise zu helfen. Für die einen war Austerität das Mittel der Wahl, also strenge Sparauflagen für den staatlichen Haushalt bei gleichzeitiger Reform der staatlichen Bürokratie und der Märkte. Für andere war das grundfalsch, und ein Marshallplan und Wachstumspakete wären angemessen gewesen. Wie viel wurde vom Kaputtsparen, dem deutschen Diktat und der deutschen Obsession für Regeln und Verträge auf der einen Seite und von den faulen und störrischen Griechen auf der anderen Seite gesprochen.
Wie war es denn nun in dieser Zeit? In einem kürzlich bei VOXEU erschienen Beitrag zeigen Jeremy Bulow und Kenneth Rogoff, dass von einer strengen Austerität eigentlich keine Rede sein kann, sondern von 2009 – 2013 erhebliche Mittel von der Troika nach Griechenland geflossen sind. Erst 2014 als die ersten Rückzahlungen zu leisten waren, drehten sich die Zahlungsströme langsam um. Es ist natürlich völlig richtig, dass von diesen Finanzhilfen wenig direkt bei der griechischen Bevölkerung angekommen ist und diese Mittel weitgehend für die Bedienung der griechischen Schulden genutzt wurden. Allerdings hielten die Transfers von der EZB im Rahmen von Target 2 und ELA an Griechenland die dortigen Banken funktionsfähig, was indirekt der griechischen Wirtschaft und der Bevölkerung zu Gute kam. Unbestreitbar ist auch, dass es zu zahlreichen sozialen Härten wie Rentenkürzungen, Kürzungen von Gehältern und Entlassungen im öffentlichen Dienst, Mehrwertsteuererhöhungen und erheblichen Einsparungen um Gesundheitssystem kam. Dadurch verschlechterten sich die Lebensbedingungen vieler Griechen und teilweise kam es zu katastrophalen (sozial-)medizinischen Zuständen. Andererseits muss man aber auch feststellen, dass das BIP pro Kopf in Griechenland noch immer höher ist als das von Estland, Lettland, Portugal, Litauen oder Ungarn, auch wenn es von 2008 bis 2014 jährlich schrumpfte. Dadurch kam es trotz des Schuldenschnitts im Jahr 2012 und einer Rückführung der staatlichen Ausgaben zu einem Anstieg der Staatsschuldenquote von ca. 110% zu Beginn der Krise auf aktuell fast 180% des BIP.
Wer hat nun recht, was die richtige Politik ist: Sparpolitik oder Wachstumsförderung? Aus meiner Sicht gibt es kein Entweder-Oder. Die Argumente beider Seiten treffen zu. Griechenland ist überschuldet, hat keinen Zugang zum privaten Kapitalmarkt und wird diese Schulden in absehbarer Zeit allein nicht zurückzahlen können. Ein Schuldenschnitt oder eine sehr, sehr lange Stundung werden unausweichlich sein. Das allein hilft natürlich nicht. Die Staatsfinanzen müssen dauerhaft konsolidiert und die Einnahmen und Ausgaben wenigsten zur Deckung gebracht werden. Aber auch das bringt keine langfristige Verbesserung, wohl aber Härten für die Bevölkerung. Diese Härten müssen sozial abgefedert werden. Für eine Erholung der Wirtschaft müssen die Märkte und der öffentliche Sektor restrukturiert und reformiert werden. Dazu sind der Aufbau eines funktionierenden Steuersystems, eine Bekämpfung der Korruption, Investitionen in Infrastruktur und ein Abbau der zahlreichen Hemmnisse für Unternehmertätigkeit nötig.
Unter diesen Voraussetzungen müsste man doch erwarten, dass es möglich ist, eine vernünftige ökonomische Lösung und einen tragfähigen politischen Kompromiss zu finden. Leider ist das Problem kein vorrangig ökonomisches mehr, sondern mittlerweile hauptsächlich ein politisches. Ökonomische Konzepte, Lösungsvorschläge und Warnungen gab und gibt es zuhauf. Renommierte Ökonomen wie Barry Eichengreen, der sich oft zur Griechenlandkrise geäußert hat, konnten sich daher auch nicht vorstellen, dass es zur verfahrenden gegenwärtigen Situation kommen würde, und sind von der Inkompetenz der Politiker auf beiden Seiten überrascht und schockiert.
Ich glaube jedoch nicht, dass Inkompetenz die Erklärung ist, sondern die politische Logik auf beiden Seiten das jeweilige Handeln erzwang, nachdem der Rubikon überschritten war. Beide Seiten stecken in einem kaum aufzulösenden politischen Dilemma.
Oft wird Deutschland vorgeworfen, übermäßig hart zu den Griechen zu sein. Es ist richtig, dass die Bundesregierung auf einer strengen Einhaltung der Auflagen bestanden hat und noch immer besteht. Aber Deutschland ist ja nicht allein. Auch der IWF und der Rest der Eurogruppe vertreten diese Position, und das nicht nur durch Druck Deutschlands. Der IWF hat einen überaus üppigen Kredit an ein Industrieland vergeben, das um ein Vielfaches reicher ist als arme IWF-Mitglieder wie Albanien, Bolivien oder der Tschad. Wie kann der IWF sich da besonders nachgiebig zeigen, nachdem er in der Vergangenheit gegenüber in die Krise geratenen Schwellen- und Entwicklungsländern auf einer strikten Einhaltung der Reformpolitik bestanden hat? Man mag diese Politik ja wie Stiglitz und andere heftig kritisieren, aber es dürfte klar sein, dass es politisch völlig unmöglich ist, gerade für ein im globalen Maßstab reiches EU-Land diese Politik zu ändern. Wie erwähnt, sind die Euro-Länder Estland, Lettland und Portugal gemessen in Pro-Kop-BIP ärmer als Griechenland. Welches Interesse sollten sie an einem besonderen Entgegenkommen haben? Zumal Portugal selbst äußerst harte Konsolidierungsmaßnahmen hinter sich hat, was zu großer politischer Unzufriedenheit führte. Es ist doch offensichtlich, dass die Regierungen Portugals und Spaniens von linken Protestbewegungen ähnlich wie Syriza sofort auf dem Amt gefegt würden, wenn die sich nachgiebig zeigten und damit der Politik Syrizas recht gäben. Das politische Eigeninteresse auf dieser Seite verlangt also Härte durch ein Bestehen auf den Auflagen und eine Verweigerung des Schuldenschnitts.
Auf der anderen Seite ist es aber nicht anders. Die Vorgängerregierungen von Syriza versprachen weitreichende Reformen. Davon setzten sie aber wenig um, sondern verlegten sich auf Einparungen an Stellen, die ihnen am wenigsten wehtaten. Symptomatisch ist die Verweigerung bzw. Unfähigkeit, gegen die Steuersünder auf der sogenannten Lagarde-Liste vorzugehen. Die wohlfeilen Empfehlungen vieler Ökonomen und der Troika-Technokraten sind so, als ob man einem Spielsüchtigen sagte, er solle mit dem Spielen aufhören und dann würde man ihm weiteres Geld geben. In Griechenland gab es bislang keine wirkliche gesellschaftliche und politische Bereitschaft für Reformen. Wer hätte sie auch umsetzen sollen? Im griechischen Klientelsystem war die alte Politikerriege von Nea Dimokratia und Pasok eng mit den von ihnen aufgeblähten Bürokratien und den Reichen und Mächtigen verflochten. Jede Partei hatte ihre sie tragenden Netzwerke und versuchte, diese so lange es ging zu schützen. Also machte man keine wirkungsvolle Politik, die die Korruption bekämpft, die Steuern bei den Reichen erhöht und auch eingetrieben und die Hürden für ein funktionierendes Unternehmertum beseitigt hätte. Stattdessen kürzte man Renten und Ausgaben im Gesundheitssystem. Dass dies Leid, Verzweiflung und Widerstand in der Bevölkerung hervorrief, ist nicht verwunderlich. Syriza ist angetreten, um genau diese relativ sinnlosen Härten für die Bevölkerung zu stoppen. Allerdings schob Syriza die Verantwortung dafür von Anfang an der Troika zu, wodurch der Spielraum für eine wirkliche Reformpolitik eng wurde.
Wo lag nun der Fehler? Es ist wohl allgemein akzeptiert, dass Griechenland dem Euro nie hätte beitreten sollen und dies eine falsche politische Entscheidung war. Aber der Fehler in der Krise lag in der Konkursverschleppung gleich bei Ausbruch der Krise im Jahr 2010. Auf VOXEU ist wunderbar nachzulesen, wie zahlreiche Ökonomen seit 2009 regelmäßig zutreffenden Prognosen über den weiteren Verlauf machten und schon sehr früh die beschlossenen Politikmaßnahmen als falsch und unzureichend kritisierten.
Gerade Angela Merkel ist mit ihrer „alternativlosen Politik“ zu einem großen Teil verantwortlich für die politische Sackgasse auf beiden Seiten. Merkel verband die Rettung Griechenlands mit dem Schicksal Europas und behauptete, dass die Stabilität der Währungsunion auf dem Spiel stünde. Gleich von Beginn an pochte sie auf der Einhaltung von Verträgen und der Achtung europäischen Rechts. Pikanterweise sah das europäische Recht eigentlich ein Verbot einer Rettung überschuldeter Mitglieder vor. Die eigentliche Rechtsbeugung geschah also durch die Kreditgewährung an Griechenland. Durch die Einbindung des IWF in das gemeinsame Rettungspaket wurde auch die Konditionalität, d.h. das Bestehen auf Reformauflagen zementiert. Diese Hilfspakete unter Auflagen waren aber der kapitale Fehler, der alle weiteren Entscheidungen erzwang. Ab da waren die politische Logik vorgegeben und alle Akteure in ihr gefangen. Es war klar, dass die Hilfspakete die Spannung nicht aus den Märkten nehmen würden, und in der Tat beruhigte sich die Lage auf den Finanzmärkten erst durch die Bazooka der EZB. Die alternativlose Politik war ein Denkverbot, dass der damalige Wirtschaftminister Rösler 2011 brach, in dem er von einer möglichen Pleite der Griechen sprach und dafür massiv von CDU-Politikern attackiert wurde. Die Alternative wäre gewesen, gleich 2010 einzugestehen, dass Griechenland de facto pleite war. Man hätte die griechischen Schulden nicht übernehmen dürfen und ein Insolvenzverfahren einleiten müssen.
Warum ist das nicht geschehen? Angela Merkel und andere beschworen die möglichen Ansteckungsgefahren für andere Länder und das Risiko einer Bankenkrise in Europa. Die Ansteckung für Irland und Portugal kam doch. Die Bankenkrise war sicher eine Gefahr, aber man hätte sie eindämmen können, wie man es ja auch in der Finanzkrise getan hat. Man hätte in der letzen Not Banken temporär verstaatlichen können. Auch die EZB hätte als Lender of Last Resort fungieren können, was sie auf andere Weise später dann ja auch getan hat.
Hat die Regierung unter Angela Merkel die Lage so falsch eingeschätzt? Hielt sie wirklich das Risiko der Bankenkrise für größer als die Risiken der Rettungspakete? Ist das Ausdruck ihres Zauderertums, ihrer Angst von Ungewissem oder von ökonomischer Inkompetenz? Man muss sich daran erinnern, dass die Bevölkerung in Deutschland von Anfang an gegen die Rettungspakete war und Merkel sich mächtig ins Zeug legen musste, um zu behaupten, die Ausfallrisiken für Deutschland seien praktisch null. Dass die Bevölkerung das anders sah, zeigte sich im raschen Entstehen und Erstarken der AfD, deren erstes Thema eine andere Europolitik war. Warum macht eine Regierung Politik gegen die öffentliche Meinung und gegen eine starke Opposition ökonomischer Experten, deren Warnungen sich im Nachhinein als völlig richtig erwiesen?
Hier hilft vielleicht die Frage nach dem Cui Bono. Letztlich ist die europäische Finanzindustrie recht glimpflich aus der Krise herausgekommen. Die Rettungspakete gaben den Banken Zeit, sich von ihren Forderungen zu verabschieden und sich abzusichern. Der Schuldenschnitt war für die Finanzindustrie durchaus verschmerzbar und maßgeblich von ihr mitgestaltet worden. Und mittlerweile sind die Griechen praktisch nur noch bei der öffentlichen Hand verschuldet. Es mag nach einer Verschwörungstheorie klingen, aber enge Verflechtungen zwischen der Finanzlobby und der europäischen Politik sind nicht von der Hand zu weisen (vgl. Report, Monitor, Kontraste). Ist es wirklich so abwegig, dass es den europäischen Politikern vor allem um die Vermeidung weiterer Härten für die von der Finanzkrise geschüttelte Bankenbranche ging und nicht um die europäische Einheit oder gar die Griechen? Und wenn es so ist, war der Preis dafür sehr hoch. Die ökonomische und soziale Krise hat sich verschlimmert, das politische Klima in Europa ist vergiftet, politisches Kapital und Vertrauen wurden zerstört, alle Seiten stecken in politischen Sackgassen, europäisches Recht wurde gebrochen oder überdehnt, und die europäische Einigung wurde gestoppt und droht sich umzukehren. War die Schonung der Banken das wert?
Ein sehr informativer Artikel mit ganz wichtigen Informationen. Hier soll es jetzt aber endlich zu einer gemeinsamen Lösung im ganzen Griechenland Drama gekommen sein. Ich bin sehr gespannt, auf was man sich hier tatsächlich jetzt geeinigt hat und ob Griechenland sich auch in Zukunft an die Sparpläne hält, um dieses ganze Problem für die Zukunft zu vermeiden.
Danke für Ihre Nachricht. Sie haben schon recht, es geht jetzt um die Lösung des Problems. Ich bin aber sehr skeptisch, dass das Problem wirklich gelöst wurde. Zum einen hat das griechische Parlament noch nicht zugestimmt. Zum anderen glaube ich noch nicht, dass alles wie gefordert umgesetzt wird und die Schulden je zurückgezahlt werden. Ich vermute eher, dass es noch viele Volten geben und uns das Thema noch lange beschäftigen wird. Und selbst wenn die ökonomische Krise nun gelöst wäre, sind die politischen Kosten dafür sehr hoch. Das Narrativ von der Demütigung der Griechen und den neoliberalen Hardlinern, die einer unliebsamen Linksregierung das Genick gebrochen haben, wird noch lange gären und Folgen haben.